Vom 22. bis 24.05. brachte die EURORDIS-Mitgliederversammlung 2025 (EMM) führende Akteure im Bereich der Seltenen Erkrankungen aus ganz Europa zusammen – erstmalig in Riga. Die Hauptstadt Lettlands bot dabei mit ihrer Geschichte, geprägt durch Widerstandsfähigkeit und bürgerschaftliches Engagement, eine passende Kulisse für die Diskussionen: Wie können wir die Stimmen der Betroffenen verstärken und noch lauter für die Menschen mit Seltenen Erkrankungen werden und wirkungsvoll Einfluss üben?!
ACHSE-Lotse Jakob Cepus und Bianca Paslak-Leptien, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit waren vor Ort und haben nicht nur prägende Eindrücke, sondern vor allem Fakten, Wissen und gestärktes Know-how für ihre Arbeit im nationalen Netzwerk mitgebracht. Für die Zusammenfassung greifen wir hier gern auf den umfassenden Bericht von EURORDIS zurück - zu finden auf Englisch hier: https://www.eurordis.org/reflections-from-emm-2025/
Wir empfehlen die Lektüre dieses zugegeben recht langen Artikels, denn er enthält reichlich Fakten zu geplanten Gesetzgebungen bzw. Maßnahmen auf EU-Ebene und berichtet welchen Einfluss wir als Patientenvertreterinnen und -vertreter üben können, wenn wir uns nur das entsprechende Werkzeug aneignen und mit einer Stimme sprechen!
„Wir sind stärker, wenn wir mit einer Sprache sprechen – gebaut auf Fakten mit den notwendigen Werkzeugen, die uns in unserem Streben unterstützen, eine Zukunft zu gestalten, die unsere Gemeinschaft benötigt, “ so die Präsidentin von EURORDIS, Avril Daly, in ihrer Eröffnungsrede.
An zwei Tagen mit inspirierenden Impulsen, Reden, Workshops und Strategiesitzungen haben die Teilnehmenden voneinander gelernt, sich informiert und sind für ihre Aufgaben auf nationaler und europäischer Ebene gestärkt worden.
Was stand auf der Agenda?
Die politische Landschaft in Europa entwickelt sich rasant. Der Europäische Gesundheitsdatenraum und die Verordnung zur Gesundheitstechnologiebewertung (HTA „Health Technology Assessment“) werden jetzt umgesetzt. Erst im März hatte die EU-Kommission den Critical Medicines Act vorgeschlagen, und die Überarbeitung des EU-Arzneimittelrechts steht kurz vor den Trilog-Verhandlungen. Was heißt das für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Europa?
Diesen Fragen versuchte sich der Workshop zur politischen Interessenvertretung zu nähern und bot Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit diesen Entwicklungen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auseinanderzusetzen. Es wurden Anleitungen geliefert, die die Patientenorganisationen für ihre politische Arbeit stärken.
Mangelnde Informationen, lange Leidenswege bis zur richtigen Diagnose, keine Therapien – all dies aktiviert auch auf europäischer Ebene die Betroffenen aktiv zu werden. Viele Organisationen, die Mitglied bei der ACHSE sind, haben Pendants in anderen Ländern, viele von ihnen schließen sich zu europäischen oder gar internationalen Föderationen krankheitsspezifisch zusammen. Gerade im Bereich der Therapieentwicklung ergibt das Sinn!
Die europäischen Rahmenpläne sind wertvolle Orientierungshilfe, doch die meisten Entscheidungen, die das Leben der Menschen mit einer Seltenen Erkrankungen bestimmen – von der Diagnose und der Koordination der Pflege bis hin zum Zugang zur Behandlung und zur sozialen Unterstützung - werden auf nationaler Ebene getroffen. Viele Länder haben Maßnahmen in Aktionsplänen festgehalten, so wie Deutschland im Nationalen Aktionsplan.
Auf der EMM 2025 wurde diese Herausforderung auch auf dem Advocacy-Workshop direkt angesprochen. Er konzentrierte sich auf die Frage, was nötig ist, um eine Dynamik für nationale Maßnahmen zu schaffen: Wie identifiziert man politische Zeitfenster, wie Botschaften, die bei den nationalen Zielgruppen Anklang finden, wie schafft man sektorübergreifende Allianzen, um den Druck aufrecht zu erhalten? Der Fokus des Workshops richtete sich darauf, wie man effektiv fordert. Wir sind keine Bittsteller, sondern haben Fakten, Gründe und Know-how im Gepäck.
Hier ein kleiner Einblick in die Entwicklungen Portugals. Joaquim Brites, Präsident der Associação Portuguesa de Neuromusculares (APN, die portugiesische neuromuskuläre Vereinigung), beschrieb diese so: „Portugal hat positive Fortschritte bei der Aktualisierung seiner nationalen Strategie für seltene Erkrankungen gemacht, insbesondere durch die Einleitung einer öffentlichen Konsultation zum Entwurf des Aktionsplans für seltene Krankheiten 2025-2030“.
Gleichzeitig warnte er, dass es noch kritische Lücken gibt. "Gegenwärtig sieht es so aus, als ob der Plan nicht genug Mittel vorsieht, die notwendig sind, um die Ziele zu erreichen. Hier sind weitere Verbesserungen notwendig ", sagte Joaquim.
"Für die APN und für unsere Freunde in den anderen portugiesischen Organisationen für seltene Krankheiten bleibt die ständige Lobbyarbeit von entscheidender Bedeutung - nicht nur, um die Strategie selbst mitzugestalten, sondern auch, um auf die finanziellen Zusagen zu drängen, die letztlich über ihren Erfolg entscheiden werden.“
Eines der dringendsten Themen, die in Riga diskutiert wurden, war die Zukunft der Patientenbeteiligung in der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Im Rahmen der Überarbeitung des EU-Arzneimittelrechts wird befürchtet, dass Patientenvertretern in wichtigen EMA-Ausschüssen - dem CHMP und dem PRAC - kein Stimmrecht garantiert wird.
In einem Workshop zum Thema regulatorisches Engagement untersuchten die Teilnehmenden, was es bedeutet, Teil der EMA-Strukturen zu sein, und warum es wichtig ist, dass Patientenstimmen nicht nur einbezogen, sondern auch gestärkt werden. Dieser Workshop fand vor dem Hintergrund einer kürzlich veröffentlichten gemeinsamen Erklärung von EURORDIS und dem Europäischen Patientenforum (EPF) statt, in der die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert werden, diese Rechte zu schützen - nicht als Geste, sondern als Schutz für eine glaubwürdige, integrative Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit dem Lebenszyklus von Arzneimitteln.
Tomasz Grybek aus Polen, Mitglied des EURORDIS-Vorstands, Vater eines Kindes mit metachromatischer Leukodystrophie und Patientenvertreter im Pädiatrieausschuss (PDCO) der EMA, sprach aus eigener Erfahrung. „Patienten bringen etwas Wesentliches in die Diskussionen des EMA-Ausschusses ein - ihre eigene Erfahrung“, erklärte er.
"Es handelt sich um hochqualifizierte Gremien, aber diese Perspektive aus der realen Welt ist oft das fehlende Teil des Puzzles. Erfahrene Patientenvertreter sind zu echten Partnern im Prozess der Arzneimittelbewertung geworden und tragen dazu bei, das Bild zu vervollständigen. Und wenn unsere Gemeinschaft damit rechnet, dass mehr Behandlungen zur Verfügung stehen, dann müssen wir bereit sein, in jeder Phase einen sinnvollen Beitrag zu leisten.
Die Auswirkungen der Health Technology Assessment (HTA) sind überall im Gesundheitswesen zu spüren. HTA trägt dazu bei, zu entscheiden, welche Behandlungen wann und für wen erstattet werden. Hier wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung in ganz Europa beeinflusst.
Der Workshop über HTA konzentrierte sich auf die neue EU-HTA-Verordnung, die Anfang des Jahres in Kraft getreten ist und mit der gemeinsame klinische Bewertungen auf europäischer Ebene eingeführt wurden. Diese Bewertungen, die nach und nach auch auf Arzneimittel für Seltene Erkrankungen ausgedehnt werden, sollen die nationalen Entscheidungen straffen und Doppelarbeit vermeiden.
Die Teilnehmenden untersuchten, wie Patientenvertreterinnen und -vertreter diesen Prozess beeinflussen und sinnvoll informieren können: indem sie klinische Daten durch die Linse der realen Bedürfnisse interpretieren, indem sie helfen zu definieren, was Wert für ihre Gemeinschaften bedeutet, und indem sie sich an strukturierten Bemühungen wie der HTA-Taskforce von EURORDIS und den Community Advisory Boards (CABs) beteiligen.
Zu denjenigen, die über diesen Wandel nachdachten, gehörte Gaëtan Duport, Vertreter des European Haemophilia Consortium im EU-HTA-Stakeholder-Network. „Als ich zum ersten Mal an den HTA-Diskussionen teilnahm, war ich mir nicht immer sicher, ob ich dazugehören würde - ich hatte keinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften, und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, wie meine Stimme Gewicht haben konnte“, sagte er.
"Aber dann wurde mir klar, dass das, was ich als Patient und als jemand, der aus der Praxis kommt, mitbringe, genau das ist, was diesen Systemen oft fehlt. Gesundheitsökonomen sind wichtig, aber sie können allein nicht vollständig erfassen, was für die Patienten am wichtigsten ist. Deshalb ist eine sinnvolle Einbeziehung der Patienten in die Bewertung von Gesundheitstechnologien so unerlässlich.
Die Europäischen Referenznetzwerke (ERN) sind eine Erfolgsgeschichte - aber wie bei vielen Erfolgsgeschichten hängt ihre Zukunft davon ab, wie es weitergeht. Die ERN wurden aufgebaut, um Expertenzentren über die Grenzen hinweg zu verbinden. Sie haben sich zu einem wichtigen Teil der europäischen Infrastruktur für seltene Erkrankungen entwickelt. Patientinnen und Patienten haben dabei von Anfang an eine Rolle gespielt.
Die Workshop-Reihe über das Engagement von Freiwilligen bot auch einen fundierten Blick darauf, wie dieses Engagement vertieft werden kann.
Flavia Galletti, Patientenfürsprecherin im ERN ERKNet, berichtete: "Die Teilnahme am ERN ERKNet als Patientenfürsprecherin ist eine der lohnendsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Man erwirbt echte Fähigkeiten, wächst durch Zusammenarbeit und arbeitet mit Menschen zusammen, die die gleichen Ziele verfolgen wie man selbst.
"Wissenschaftler in ERNs sind wie erfahrene Bogenschützen - fokussiert, präzise, mit einem klaren Ziel vor Augen. Patienten dagegen sind wie Alpinisten, die mit offenen Augen klettern - wir sehen die weite Landschaft, die Herausforderungen und Möglichkeiten, die den Alltag mit einer seltenen Krankheit prägen. In einem ERN ist es diese Kombination, die die Arbeit wirklich wirkungsvoll macht. Eine starke Patientenvertretung verbessert nicht nur die Ergebnisse des Netzwerks - sie inspiriert auch neue Forschungsrichtungen und hilft, gute Ideen weiter voranzutreiben: zu den Entscheidungsträgern und schließlich in das Leben der Menschen."
Während sich andere Workshops darauf konzentrierten, wer und wie man sich einbringen kann, ging es im Workshop zur Nutzung der Ergebnisse des EURORDIS Rare Barometers um eine andere Frage: Welche Daten können von Patientenvertreterinnen und -vertreter in das Gespräch eingebracht werden? Die Teilnehmenden untersuchten, wie die EURORDIS-Umfragen zum Rare Barometer - die regelmäßig die Erfahrungen und Prioritäten von Tausenden von Menschen in ganz Europa erfassen - die Interessenvertretung fundierter und glaubwürdiger machen können, so dass sie von den politischen Entscheidungstragenden und der Gesellschaft nicht so leicht ignoriert werden kann.
Ganz gleich, ob Sie sich für nationale Strategien, eine HTA-Reform oder eine Stärkung der ERN einsetzen, das Rare Barometer bietet eine fundierte Grundlage. Es verwandelt persönliche Geschichten in kollektive Erkenntnisse und gibt den Befürwortern das, was Entscheidungstragende am meisten brauchen: Klarheit, Glaubwürdigkeit und datengestützte Dringlichkeit.
„Die Erhebungen des Rare Barometer bieten entscheidende Einblicke in die Lebenswirklichkeit von Menschen mit seltenen Krankheiten, einschließlich derer, die von seltenen Lipiderkrankungen wie der homozygoten familiären Hypercholesterinämie und dem familiären Chylomikronämie-Syndrom betroffen sind“, sagte Maja Bartoszewicz-Moritz, Projektmanagerin für Seltene Erkrankungen bei der FH Europe Foundation. „Diese Ergebnisse sind ein wertvolles Instrument, um die vielfältigen Herausforderungen zu verstehen, mit denen die Gemeinschaft der Menschen mit Seltenen Erkrankungen konfrontiert ist. Sie dienen als Grundlage für eine effektivere Interessenvertretung und politische Arbeit in ganz Europa.“
"Einer von drei Menschen, die mit Seltenen Erkrankungen leben, wird nicht als behindert anerkannt. Dies spiegelt ein breiteres Problem bei Menschen mit unsichtbaren oder unverstandenen Krankheiten wider. Die Folgen einer solchen Fehleinschätzung sind beträchtlich - vom Ausschluss von wichtigen Dienstleistungen bis hin zu unzureichenden politischen Maßnahmen. Bei FH Europe werden solche Daten genutzt, um die Bemühungen um eine integrative Gesundheits- und Sozialpolitik zu unterstützen und sicherzustellen, dass die Bedürfnisse von Menschen mit seltenen Erkrankungen anerkannt und in den entsprechenden Rahmen und nationalen Gesundheitsstrategien berücksichtigt werden."
Die EMM 2025 hat Aktive zusammen gebracht, dazu beigetragen Kompetenzen aufzubauen und zu stärken.
Die Gemeinschaft der Menschen mit Seltenen Erkrankungen hat die Aufgabe, in den Regulierungssystemen, den nationalen Regierungen und den EU-Institutionen eine Rolle zu spielen. Die Workshops in Riga haben dazu beigetragen, diese Rolle deutlicher zu machen. Was als Nächstes kommt, hängt nicht nur vom Ehrgeiz, sondern auch von der Vorbereitung ab - und davon, dass wir weiterhin nicht nur laut, sondern auch effektiv sprechen.
(Quelle: https://www.eurordis.org/reflections-from-emm-2025/ - übersetzt und angepasst ACHSE)
Bianca Paslak-Leptien
Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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Jakob Severin Cepuš
Arzt und ACHSE Lotse für Ärztinnen und Ärzte und weiteres Fachpersonal im Gesundheitswesen/ ACHSE Wissensnetzwerk und Beratung
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